Beim Umgang mit Technologie verhält sich der Mensch anders als beim Umgang mit der „realen“ Welt: Wo immer die Technologie auf eine menschliche Grundtendenz trifft, verstärkt und beschleunigt sie sie.
Ist der Cyberspace ein Ort? Diese Frage wird seit einiger Zeit heiß diskutiert. Meine Antwort: Eindeutig ja. Selbst wenn Sie sich in einem vertrauten Umfeld befinden, wie etwa zu Hause oder im Büro – sobald Sie online gehen, sind Sie mit Ihrem Bewusstsein, Ihren Emotionen und Reaktionen und Ihrem Verhalten an einen anderen Ort. Dabei hängt es von Ihrem Alter, Ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung sowie Ihren persönlichen Eigenschaften ab, wie Sie im Einzelnen reagieren.
Beim Umgang mit Technologie verhält sich der Mensch anders als beim Umgang mit der „realen“ Welt: Wo immer die Technologie auf eine menschliche Grundtendenz trifft, verstärkt und beschleunigt sie sie. Wir alle haben erlebt, welche negativen psychologischen Effekte mit der Technologienutzung einhergehen können – vom suchtähnlichen Umgang mit dem Mobiltelefon bis hin zur Sozialtechnologie mit ihren „Massenzerstreuungswaffen“, die unsere Aufmerksamkeit kapern, uns auswerten, unsere Daten zum Profiling und Microtargeting nutzen, uns monetarisieren und in unserem Online-Verhalten unterschwellig manipulieren.
Die Technologie des Cyberspace war ursprünglich darauf ausgelegt, für die Bevölkerung vorteilhaft, attraktiv und verlockend zu sein. Was wir als Gesellschaft damals nicht vorhergesehen haben, war ihr Einfluss auf abartige, kriminelle und anfällige Bevölkerungsgruppen und die resultierenden Nachteile für die Gesellschaft. Früher hatten die Mitglieder extremer oder marginalisierter Gruppen Schwierigkeiten, sich zu finden. Den Möglichkeiten des Aufeinandertreffens waren durch die Gesetze der Wahrscheinlichkeit und der Nähe Grenzen gesetzt. Ebendiese Wahrscheinlichkeit hat sich inzwischen verändert. Ursache ist ein Cyber-Effekt, den ich als Online-Syndizierung [2] bezeichne: Die Mathematik des Verhaltens im digitalen Zeitalter hat sich verändert – nicht nur für Sexualstraftäter und Menschen, die Hassreden sowie rassistische und frauenfeindliche Inhalte verbreiten, sondern auch für Cyberkriminelle, Extremisten und junge Menschen mit krankhafter Neigung zur Selbstbeschädigung. Meine Prognose: Mit der Hyperkonnektivität werden die Fallzahlen von Missbrauch und kriminellem Verhalten ansteigen – im Cyberspace wie auch in der realen Welt.
Als Cyber-Verhaltensforscherin beleuchte ich die Schnittstelle Mensch-Technologie – oder, wie manche es ausdrücken: die Stelle, an der Mensch und Technologie aufeinanderprallen. Nachdem mittlerweile Schutzstrategien für physische Delikte und Wirtschaftskriminalität entwickelt wurden, müssen wir uns nun dringend mit der Kriminalität befassen, die durch den Cyberspace ermöglicht oder begünstigt wird. Bis dato konzentrieren sich die Bemühungen um Cybersicherheit hauptsächlich darauf, Angriffe auf kritische Infrastruktur abzuwehren oder zu verhüten. Mit dem Vordringen des Internet of Things (IoT) – des „Internet der Dinge“, das laut Prognosen bald eine geschätzte Billion Geräte umfassen dürfte – werden wir allerdings in naher Zukunft Angriffe nicht nur auf kritische, sondern auf die gesamte Infrastruktur erleben. Hacking und andere cyberkriminelle Aktivitäten sind heute überall verbreitet, Täter lancieren komplexe globale Offensiven auf Privatpersonen und Firmen. Mit zunehmender Vernetzung sorgt das IoT auch für vielfältigere Bedrohungen und mehr Angriffsmöglichkeiten – somit gilt es, ein Bewusstsein der Cybersituation aufzubauen und die Sicherheit in Cyber-Umgebungen zu verstärken.
Aber wie?
In meinem Beitrag zum IoT-Sicherheitsmanifest [3] des IT-Unternehmens ARM [4] schrieb ich kürzlich, dass Sicherheit nicht immer von Haus aus in Geräte und Systeme eingebaut ist. Verschärft wird die Situation durch haltlose Annahmen der User, die ein falsches Sicherheitsgefühl vermitteln – „fake safety“. Cyber-Attacken sind oft deshalb erfolgreich, weil es an digitaler Hygiene, eingebauter Sicherheit und User-Sicherheitsbewusstsein mangelt. Dabei sind die jüngeren User-Generationen zwar versierter im Umgang mit den digitalen Möglichkeiten, aber paradoxerweise oft noch nachlässiger in puncto Cybersicherheit. In Wissenschaft, Design, Entwicklung und Konstruktion müssen wir uns intensiver mit dem Verbraucher auseinandersetzen. Wir brauchen einen menschzentrierten Ansatz, der berücksichtigt, wie Menschen vernetzte „Dinge“ tatsächlich nutzen – nicht, wie die technische Welt es von ihnen erwartet oder vermutet.
Cyberkriminalität hat erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen. Laut dem 2018 erschienenen Report „No Slowing Down“ [5] von McAfee und dem Center for Strategic and International Studies (CSIS) soll sie Unternehmen schätzungsweise 600 Milliarden Dollar jährlich kosten – das sind 0,8 Prozent des weltweiten BIP. Dazu Steve Grobman, Chief Technology Officer bei McAfee: „Die digitale Welt hat nahezu jeden Aspekt unseres Lebens verändert, auch Risiken und die Kriminalität, und als Folge sind Verbrechen heute effizienter, weniger riskant, profitabler und einfacher denn je.“ Sogenannte Darknet-Märkte – die üblen und skrupellosen „Gegenden“ des Web, die auf den gängigen Suchmaschinen nicht erscheinen – begünstigen cyberkriminelle Akte wie Attacken mit Erpressungssoftware, Identitätsdiebstahl oder Internetbetrug. Die Kosten dieser Delikte sind nicht nur finanzieller Natur; auch auf menschlicher Ebene zahlen wir einen hohen Preis. Man denke nur an Trolle und Online-Mobbing, Schlafprobleme und Schlafmangel, die immer häufiger anzutreffenden Angststörungen und Depressionen bei jungen Menschen, die weitverbreitete Kommerzialisierung persönlicher Daten und die „Gamifizierung“ politischer Wahlkämpfe, im Zuge derer das Wählerverhalten online manipuliert wird. [6]
Was können wir tun?
Können Experten diese Schnittstelle Mensch-Technologie besser ausleuchten? Sind wir in der Lage, Entwicklungen zu prognostizieren, Probleme zu erkennen, kreative Antworten zu finden, Lösungen zu entwickeln und Rat und Hilfe in Sachen Cyberspace zu bieten?