Das vereinte Europa ist die einzige vernünftige politische Utopie, die wir Europäer im Laufe der Geschichte zustande gebracht haben.
So betrachtet käme als Leitspruch Europas eines der ersten Mottos der Vereinigten Staaten infrage, jener politischen Utopie, die die Aufklärung befruchtete und historisch bisher am erfolgreichsten war. Das Motto lautete: E pluribus unum – aus vielen Ländern, Sprachen, Kulturen, Traditionen und Vergangenheiten ein einziger Staat. An diesem Punkt muss ich ein Geständnis machen. Europa ist für mich immer das geblieben, was es für mich als Jugendlicher war, der gerade das Ende einer nicht enden wollenden Diktatur erlebt hatte; das, was es jahrhundertelang für die besten Köpfe unter meinen spanischen Vorfahren war. Mit anderen Worten: Wie mein Freund Erri de Luca bin ich ein europäischer Extremist. Für mich ist das vereinte Europa die einzige vernünftige politische Utopie, die wir Europäer im Laufe der Geschichte zustande gebracht haben.
Abschreckende politische Utopien – Paradiese in der Theorie, die zur Hölle in der Praxis wurden – haben wir im Überfluss erfunden; vernünftige politische Utopien, soweit ich weiß, nur diese eine: die eines geeinten Europas. Meiner Meinung nach gibt es unendlich viele Argumente für diese Idee. Sie sind so naheliegend, dass wir sie wohl meist übersehen, leben wir doch in einer Diktatur der Gegenwart, in der das Gestern bereits Vergangenheit ist und alles, was vor einer Woche geschah, praktisch graue Vorzeit.
Ich will nur drei dieser Argumente erwähnen. Erstens: Europas Volkssport ist nicht, wie so viele glauben, der Fußball, sondern der Krieg. Im vergangenen Jahrtausend haben wir Europäer uns ohne Pause und in allen erdenklichen Formen gegenseitig umgebracht: im Hundertjährigen Krieg, im Dreißigjährigen Krieg, in Bürgerkriegen, in Religionskriegen, in ethnischen Kriegen oder in Weltkriegen, die in Wirklichkeit europäische Kriege waren. Furchtbar und irrsinnig grausam waren diese Weltkriege. George Steiner erinnert daran, dass zwischen August 1914 und Mai 1945 von Madrid bis an die Wolga, von der Arktis bis nach Sizilien, etwa Hundert Millionen Männer, Frauen und Kinder Gewalt, Hunger, Deportationen und ethnischen Säuberungen zum Opfer fielen. Westeuropa und der Westen Russlands wurden zur Heimstätte des Todes, zum Schauplatz einer bisher nicht gekannten Brutalität, ob in Form von Auschwitz oder des Gulag. Ganz offensichtlich entstand das Projekt der Europäischen Union aus dem Grauen dieses unbeschreiblichen Blutvergießens und aus der von Vernunft, Abscheu und Mut getragenen Überzeugung, dass sich so etwas in Europa nicht wiederholen darf. Ganz offensichtlich – und bemerkenswert – sind die Folgen dieser Überzeugung: Mein Vater hat den Krieg erlebt, mein Großvater hat den Krieg erlebt, meine Urgroßväter und Ururgroßväter und wahrscheinlich alle meine Vorfahren haben den Krieg erlebt – nur ich nicht. Ich gehöre also zur ersten Generation in Europa, die keinen Krieg gekannt hat, zumindest – vergessen wir die brutalen Kämpfe nicht, die Jugoslawien zerrissen – keinen Krieg zwischen den großen europäischen Mächten. Deshalb halten viele heute einen erneuten Krieg in Europa für undenkbar. Mir erscheint das naiv.
In der Geschichte Europas sind Kriege nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Und es müssen nur wieder ernste Schwierigkeiten auftreten wie nach der Krise von 2008, damit der Nationalismus mit seiner ganzen Kraft wiederaufersteht. Er war die Ursache, die Standarte und der Nährboden aller europäischen Kriege in den letzten zwei Jahrhunderten. Europa hat sich zusammengeschlossen, um ihn zu bekämpfen. Aber das ist eine schwierige Aufgabe. Der Nationalismus ist keine politische Ideologie, er ist ein Glaube – nicht umsonst trat die Nation an die Stelle Gottes als politisches Fundament des Staates. Diesen Glauben in Europa loszuwerden, wird fast genauso schwierig sein, wie Gott loszuwerden. Denn wie George Orwell beobachtet hat, ist den Nationalisten die Realität gleichgültig. Man kann es sich folglich sparen, ihnen faktengetreu darzulegen, warum beispielsweise der Austritt aus der EU ein schlechtes Geschäft für das Vereinigte Königreich ist oder das Geschwafel einiger Politiker gegen Immigranten tatsächlich nur Geschwafel ist, eine durch und durch fremdenfeindliche Wahnvorstellung. Sie werden weiter glauben, dass die Briten aus der EU austreten sollten und Immigranten eine Gefahr für ihre Arbeitsplätze und ihre Sicherheit sind. Sie werden immer noch für den Brexit stimmen. Condorcet [4] schrieb, menschliche Dummheit – vor allem politische Dummheit – habe ihren Ursprung so gut wie immer in der Angst; und Walter Benjamin meinte, glücklich sein heiße, ohne Furcht zu leben. Die Nationalisten sind unglücklich und fürchten sich sehr. Für sie, für viele von ihnen, ist die Europäische Union nur ein fernes, unnützes und seelenloses Etwas, das sie den Unbilden des Lebens aussetzt und zwingt, mit seltsamen Leuten zu leben, die seltsame Sprachen sprechen und seltsame Gebräuche haben. Sie sind stattdessen lieber unter ihresgleichen (oder vielmehr dem, was sie für ihresgleichen halten oder was ihnen als ihresgleichen verkauft wurde), im Schutze der falschen Sicherheiten von einst, unter dem Dach trügerischer kollektiver Identitäten, denen – wie Nietzsche sagen würde – der altbekannte Stallgeruch anhaftet. Zukunft lässt sich nur dann sinnvoll gestalten, wenn die Vergangenheit gegenwärtig ist. Daher ist es ein kolossaler Fehler, Europas düstere und zerstörerische Geschichte der Gewalt zu vergessen, so als habe sie nie existiert.
Zu vergessen, dass die Europäische Union entscheidend dazu beigetragen hat, diese finstere Vergangenheit hinter uns zu lassen, ist ein noch größerer Fehler.